Warum uns Teilen glücklich macht

Ist Geiz noch geil? Leider ja! Aber parallel dazu bahnt sich ein neuer Trend seinen Weg: Share Economy und Share Community, auf Deutsch KoKonsum. Nicht alles selbst besitzen, sondern nur Zugang dazu haben.

Es wird geteilt und geschenkt – von Autos, Kleidung, Büchern über Couchsurfing bis zum Crowdfunding. Warum? „Weil es glücklich macht“, sagt eine leidenschaftliche Foodsaverin.
 
157.000 Tonnen! Dies ist die Zahl der jährlich in österreichischen Haushalten weggeworfenen – noch genießbaren – Lebensmittel. In einem durchschnittlichen französischen Supermarkt sind es 500 Tonnen pro Jahr, in der gesamten EU 90 Millionen Tonnen. Filme wie „Taste the Waste“ oder „Plastic Planet“ zeigen die fatalen Folgen unserer Konsumgesellschaft mit ihrer Massenproduktion auf und haben viele Menschen sensibilisiert. Und einige zum Handeln animiert. Beispielsweise den Produzenten von Taste the Waste, Valentin Thurn: Er gründete nach dem Erfolg seines Filmes die Onlineplattform foodsharing.de. Mittlerweile können auch in Österreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern Privatpersonen, Händler und Produzenten überschüssige Lebensmittel kostenlos anbieten, damit sie nicht im Müll landen.
20.000 bis 50.000! Dies ist die Zahl der in einem durchschnittlichen modernen Haushalt vorhandenen Einzelgegenstände. Und über 90 % davon verwenden wir weniger als eine Stunde im Monat. Wir haben gar nicht die Zeit, dies alles zu warten, zu pflegen und so abzuarbeiten, dass es einen spürbaren Nutzen bringt. „Konsum-Burn-out“ nennt dies der Wachstumskritiker Niko Paech. Übermäßiger Besitz belastet und frisst wertvolle Lebenszeit. „Ich habe festgestellt, dass mehr Krempel auch mehr Stress bedeutet“, schreibt der US-Amerikaner Michael Kelly Sutton in seinem Blog „The Cult of Less“. Er lebt mittlerweile mit 126 Dingen, 12 davon stehen im Netz zum Verkauf bereit. Neben diesen „Minimalisten“ sind eine ganze Reihe von Tausch-Plattformen entstanden, wo Menschen ihre needs (was sie brauchen) und ihre gives (was sie zu verschenken oder teilen haben) einstellen. Nichts ist zu skurril, um nicht einen neuen Besitzer zu finden. Ein Luftschloss? Nein! Aber so heißt der Umsonstladen in Würzburg. Mit einem kompletten kostenlosen Sortiment will diese Initiative „Dingen einen längeren Nutzen geben, um Menschen, die Umwelt und Ressourcen zu schonen.“


Anderssein wollen


Bestehen all diese Initiativen rein aus Weltverbesserern und Konsumverweigerern? Nein, längst haben diese Bewegungen die bürgerliche Mittelschicht erfasst und vor allem unter der jüngeren Generation beginnt ein breites Umdenken. Mehr als ein Umdenken ist es einfach eine andere Lebenseinstellung: Lebensqualität vor Geld und Karriere, weniger ist mehr, Qualität vor Quantität bei Lebensmitteln und anderen Produkten, Zugang zu den Dingen, anstatt sie selber zu besitzen und einander begegnen und miteinander teilen. Das Netz und vor allem die sozialen Netzwerke tun das ihrige für diese neue Share Community.
Wenn aber nicht das Weltverbessern der Hauptfokus ist, woher kommt dann diese andere Lebenseinstellung? Zunächst scheint es eine Gegenbewegung zum Mainstream zu sein, ein Anderssein-Wollen. Eine junge Generation und alternative Denker, die sich aus den Zwängen der Konsumgesellschaft befreien wollen, so wie sich die 68er aus den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft befreien wollten. Während die 68er-Bewegung massive und radikal revolutionäre Züge trug, können wir bei der Share Community fast von einer stillen Revolution sprechen. Aber hinter jeder Revolution stehen Bedürfnisse. Für diese im Überfluss geborene Generation entsteht das Bedürfnis nach weniger. Für diese im Wettkampf und Konkurrenzdruck erzogene Generation entsteht das Bedürfnis nach Teilen und Miteinander. Für diese mit Fast Food aufgewachsene Generation entsteht das Bedürfnis nach Qualität. Für diese mit Massenprodukten großgewordene Generation entsteht das Bedürfnis nach Originalität. Für diese von Materialität und Haben umgebene Generation entsteht das Bedürfnis nach Spiritualität und Sein.
Und da ist noch etwas: Diese „stillen Revolutionäre“ haben entdeckt, dass diese neue, einfachere, stressfreiere, miteinander teilende Lebensweise schlichtweg glücklicher macht. Warum dies so ist, vermögen sie kaum zu erklären. Vielleicht, weil diese Lebensweise generell näher am Leben und Menschsein ist?


Anderssein müssen


Neben der stillen gesellschaftlichen Revolution hat sich parallel eine andere Revolution vollzogen, eine wissenschaftliche. Das darwinistische Paradigma der Evolution durch Konkurrenz und Überleben des „Tüchtigsten“ wurde abgelöst vom Paradigma der Evolution durch Kooperation und Überleben derjenigen, die sich zusammenschließen. Die Gemeinschaftsbildung scheint uns demnach in den Zellen zu liegen. Schon die urzeitlichen Einzeller bildeten unter Stressfaktoren einen gemeinsamen Organismus aus, sozusagen als Überlebensstrategie. Der bekannte Gehirnforscher Gerald Hüther bezeichnete in seinem Vortrag „Die transformierende Kraft der Liebe“ die These, dass für die Weiterentwicklung der Lebensformen Konkurrenz notwendig sei als die „größte Irrlehre, die je verbreitet wurde“. „Was wir für die Weiterentwicklung tatsächlich brauchen, ist die Begegnung und der Austausch“, belegte er im Weiteren durch einen Versuch mit Pantoffeltierchen. Konkurrenz führt nur zum Ausbau und zur Verbesserung der schon vorhandenen Fähigkeiten, also zum Spezialistentum, was aber mit Weiterentwicklung nichts zu tun hat. Lynn Margulis, die 2011 verstorbene Mitautorin der Gaia-Theorie, übertrug diese Beobachtungen auf die aktuelle Situation der Menschheit: „Wenn wir die ökologischen und sozialen Krisen, die wir selbst herbeigeführt haben, überleben wollen, müssen wir uns auf völlig neue und dramatische Gemeinschaftsexperimente einlassen.“
Hier geht es also nicht mehr um ein Anderssein-Wollen, sondern um ein Anderssein-Müssen, wenn wir die aktuellen ökologischen und sozialen Krisen meistern wollen.
Eine der führenden Stimmen afrikanischer Spiritualität, Sobonfu Somé aus Burkina Faso, bezeichnet Beziehung und Community als wesentliche Elemente des Menschseins. Sie erkennt „eine tiefe Sehnsucht unter den Menschen des Westens, sich mit etwas Größerem zu verbinden – mit Gemeinschaft und Geist.“ Erziehung ist für sie ein Miteinander-Teilen von Wissen, Erfahrungen, Lebenshaltungen innerhalb der gesamten Gemeinschaft eines Dorfes. Die Eltern alleine sind dazu zu wenig. Und unsere Großstädte sind dazu ungeeignet. In ihnen leben wir nicht mit, sondern nebeneinander, in ihnen können Kinder auf den Straßen verwahrlosen, Obdachlose vegetieren, Alte und Kranke vereinsamt und unbemerkt krepieren.


Wandel von unten


Immer mehr Menschen erkennen, dass ein Wandel – selbst wenn er als „Change“ zum Hauptmotto eines amerikanischen Präsidenten erklärt wird – nicht von oben kommt. Zu stark sind die Verflechtungen der etablierten Systeme und Parteien mit den Waffen-, Industrie- und Wirtschaftslobbys. So entstehen in Eigeninitiative unzählige Projekte: Cohousing-Projekte, gemeinschaftliche Landwirtschaftsprojekte, urbane Gartenkulturen, selbstverwaltete Banken, lokale Währungen, kollektive Alternativenergieanlagen, freie Kindergärten und Schulen, Tauschkreise und vieles mehr. „Yes, we can“ bekommt hier eine besondere Bedeutung. Es ist ein Wandel von unten. Dass die Herrschaften des Establishments und ihre Handlanger sofort Feuer schreien – von Sekten, Nazis und Demokratiefeindlichkeit reden und schreiben, hat Methode. Ihre Form des Teilens lautet anders: „Teile und herrsche“, die uralte Formel des Beherrschens und Unterdrückens. Ihnen sei einmal mehr Goethes Sprichwort ins Stammbuch geschrieben:
„Entzwei und gebiete! Tüchtig Wort;
Verein´ und leite! Bessrer Hort.“


Großherzigkeit statt Solidarität


Das heutige Schlagwort für eine Philosophie des Gebens und Teilens heißt Solidarität. Solidarisch sein bedeutet, etwas in solido anzugehören, also so anzugehören, dass ich „für das Ganze“ bin. Wenn wir uns solidarisch erklären, bleibt immer die Frage: mit wem? Mit den Flüchtlingen, mit den Asylanten, mit den Inländern, mit den Reichen, mit den Armen? Der französische Philosoph André Comte-Sponville schreibt dazu in seiner „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“: „Der Missbrauch, den man mit dem Wort [Solidarität] heute treibt, scheint mit vor allem ein Hinweis auf unsere Unfähigkeit zu sein, die richtigen Worte zu verwenden – denn sie machen uns angst. Solidarität […] ist […] ein zurückhaltender Ersatz für Gleichheit, und für Gerechtigkeit und Großherzigkeit, […].“
Nennen wir das Kind also beim Namen: „Wir brauchen Großherzigkeit.“ Descartes sieht darin das höchste Gut für jedermann, es besteht „in einem festen Willen, gut zu handeln, und in der Befriedigung, die daraus erwächst“. Für ihn ist Großherzigkeit Glück und versöhnt „die beiden gegensätzlichsten und berühmtesten Meinungen der Alten, die der Epikureer (diese erkennen das Vergnügen als höchstes Gut) und die der Stoiker (Tugend als höchstes Gut).
Der Großherzige erfreut sich eines festen Willens, er ist frei. Frei von seinem klein karierten Ich. Und diese Freiheit ist Glück.


Dieser Artikel von Mag. Hannes Weinelt erschien erstmals in der Ausgabe Nr. 142/2015 des Magazins Abenteuer Philosophie; mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Filosofica; Copyright: Verlag Filosofica, Münzgrabenstraße 103, 8010 Graz; www.abenteuer-philosophie.org

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